Ali war ein Mann, stolz auf seinen vollen Bart, der ihm wie als strenggläubigem Moslem ehrwürdig zu Gesicht stand. Man sah ihn nie ohne Gebetskette, deren runde Perlen ständig unter seinen Fingern von einer Seite zur anderen glitten. Niemals versäumte er während des Ramadans, des islamischen Fastenmonats, alle überlieferten Bräuche genau einzuhalten. Die fremden Frauen und Mädchen kannte er, wie es sich für einen gläubigen Mohammedaner geziemt, nur tief verschleiert, und jedesmal, wenn er einem der blumenreichen Geschöpfe Allahs begegnete, senkte er seinen Blick.

Seine Schwester Soghra mit dem mondfarbenen Teint war das einzige junge Mädchen, das er ohne Schleier sehen durfte. Ihre schwarzblauen Haare umwallten die zierliche Gestalt, und ihre knospenden Lippen waren für Ali die schönsten der Welt.

Nur einen Makel hatte seine mondschöne Schwester: Sie war gottlos wie die Sünde, jedenfalls nach der Ansicht ihres frommen Bruders Ali. „Du wirst dich noch zu Tode fasten und beten“, sagte sie, „wenn du nicht heimlich isst.“ Aber Alis Glaube war durch nichts zu erschüttern. Auch nicht durch seine bezaubernde Schwester, die ihn verspottete,

Als die Fastenzeit vorüber war, belohnte die Großmutter den frommen Ali, der immer für sie gebetet hatte, mit einer Erholungsreise in den Gebirgsort Schemiran. Auch seine lebenslustige Schwester mit ihren Kusinen, die nach Ansicht Alis eher eine Strafe verdient hätten, durften in die schönsten Gefilde am Rande der Teheraner Hochebene reiten.

Ungeachtet alter Familientradition ritten Schwester, Kusinen und Bruder nicht gemeinsam auf ihren Eseln mit den bunten Satteltaschen ins Gebirge. Der fromme Ali hielt sich abseits der lebenslustigen Mädchen, um deren Gesellschaft ihn jeder heranwachsende junge Mann in ganz Persien beneidet hätte.

Während die Mädchen kichernd zur Quelle des Bergflusses ritten, strebte Ali betend den Berggipfeln zu, um Allah näher zu sein. Insgeheim verscheuchte er immer wieder den Wunsch, doch einmal die Mädchen etwas entblößter zu sehen. Vielleicht nur einen Oberarm oder wenigstens den schwanenweißen Hals der Kusine Anuscha. Warum war er nicht mehr so jung wie der sechsjährige Bruder Ahmad, der den Mädchen sogar zusehen durfte, während sie nackt badeten? Er durfte ihnen die Früchte reichen und sie ganz nah betrachten, obwohl er doch bestimmt nichts davon hatte.

Während Ali betend immer wieder die sündigen Wünsche aus seinem Kopf vertrieb, bereiteten die Mädchen am Wasserfall die Badezeremonie vor, die seit Jahrhunderten die gleiche geblieben ist und noch heute, obwohl alles europäisiert ist, weitergepflegt wird.

Wie es nun kam, dass der fromme, eifrig betende Ali, auf dem einsamen Gebirgsweg einherschreitend, plötzlich über den hoch aufgespannten Badeschleiern die entkleideten Mädchen erblickte – das wird wohl niemals ganz geklärt werden. War es die schwarze Dienerin, die Ali wohlwollte und die Wege zusammenführte? Oder waren es gar die lustigen Mädchen, die den frommen und schüchternen Ali weltlichen Freuden näherzubringen versuchten?

Doch, um nicht die schlimmste aller Sünden vor Allah zu begehen, die Lüge, muss hinzugefügt werden, dass Ali von diesem Tage an niemals mehr den Teufel Scheitan mit Beten zu vertreiben versuchte. Noch am Tage der Begegnung wählte er die schöne Kusine Anuscha zur Ehefrau, und ehe die Sonne hinter den Bergen versank, ritt die „sündige“ Schwester Soghra ihrem Bruder zuliebe nach Teheran, um die Heiratsvermittlung schnellstens einzuleiten. Ihre Bemühungen fielen auf so fruchtbaren Boden, daß Ali und Anuscha ein glückliches Paar wurden, ehe der Mond zu wechseln begann.

Text und Bild: Akefeh Monchi-Zadeh

Das Märchen „Die Versuchung des Ali“ erschien 1956 in der DDR-Kulturzeitschrift „Das Magazin

Persische Miniatur: Badende Frauen
Details zu dem Bilde „Badende Frauen“ von Akefeh von Koerber